Tour der Leiden in Westafrika und das Mantra „Bonjour monsieur, ca va? Donnez moi cadeaux, l’argent“?
„Jetzt schon ein Bier?“, möchte sich Claudia fragend meiner Bestellung versichern. Nachdem ich zuvor die Campinggebühr für die vergangenen Tage beglichen habe und der Moment meiner Abreise aus dieser „Wohlfühl-Enklave“, unweit des von den Gambiern liebevoll genannten „smiling coasts“ näher rückt, benötige ich noch einen „Startpiloten“.
Es ist der 1. April 2016 und beste europäische Frühstückszeit, weshalb mich die pfälzisch-schwäbischen Herbergseltern der Camping-Lodge in Sukuta, Joe und Claudia ob meines frühmorgendlichen Wunsches befremdlich anblicken. Sie ahnen nicht, dass für mich der afrikanische Frühschoppen stellvertretend für jenes Glücksgefühl steht, welches die bevorstehende Fortsetzung meiner Rückreise nach Marokko in mir auslöst. Bereits einige Tage zuvor stellte die Stadt Bafata im Südosten des in der letzten Dekade von vielen politischen Umstürzen und Bürgerkriegen gebeutelten, aber überaus sympathischen Guinea-Bissau den Wendepunkt meiner Radreise dar, welche ich im Oktober 2015 in Wolfschlugen in der Region Stuttgart begonnen hatte.
Nach 10500 km hatten mich im Besonderen die letzten zwei Reisemonate in einer Weise müde werden lassen, wie ich es noch nie auf meinen Radreisen in den zurückliegenden 20 Jahren erlebt habe. Außenstehende, denen ich sichtlich aufgelöst von meinen Erfahrungen und Erlebnissen berichtete, attestierten mir ein „Reiseburnout“.
Es waren nicht äußere Bedingungen wie etwa das Klima oder die zeitweilige Unsicherheit im Straßenverkehr und die zunehmende Schwierigkeit geeignete Schlafplätze in den Ländern südlich von Marokko zu finden, die mich mürbe und erschöpft werden ließen, sondern die Begegnungen mit den Menschen.
Schnell hatte ich mich an die staubtrockene Luft und die Sandverwehungen in der Western Sahara sowie in Mauretanien gewöhnt. Auch die vor allem im Großraum Dakar sowie in Gambia anarchische Fahrweise der Westafrikaner, mit ihren in schwarzen Fontänen vor sich hin rußenden, zumeist fensterlosen Blechkisten konnte mich genauso wenig zur Umkehr ins vergleichsweise paradiesische Marokko bewegen, wie die zunehmende Hitze in der Trockensavanne Senegals sowie in Gambia oder in Guinea-Bissau. Längst hatte ich mich daran gewöhnt, bis zu 10 L Wasser am Tag trinken zu müssen und tagsüber wenig schattige Plätze außerhalb von Ansiedelungen vorzufinden. Folglich begab ich mich nicht selten bereits früh morgens in der Dunkelheit auf die Straße, als in den Dörfern schon die ersten Feuer für die morgendlichen Rituale loderten bzw. noch der Duft der erloschenen Feuer vergangener Brandrodungen in der Luft lag.
Hingegen nicht ignorieren, geschweige daran gewöhnen konnte ich mich an die „Kontaktanbahnung“ a la, „Bonjour monsieur, ca va ….“, der Menschen, welcher zumeist die Bitte um Geld oder Geschenke folgte.
Bei meiner Fahrt durch die Dörfer wurde mir in allen Ländern Westafrikas und besonders im Norden des Senegals als scheinbar außerirdischem Wesen jeweils hundertfach, vor allem von den kleinen Kindern und ihren Müttern erst enthusiastisch, dann hoffnungsvoll zugejubelt, um dann „Monsieur / Toubab, donne moi l’argent / cadeaux / stylo / velo“ zu rufen, was übersetzt nichts anderem als einer Bitte um Geld, einem Geschenk, einem Stift und manchmal nach meinem Fahrrad gleichkam. Als der im Senegal radreisende „Toubab“ ( Weißer oder auch zurecht sinngemäß übersetzt mit wealthy traveller = wohlhabender Reisender ), später in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Guinea-Bissau wohlklingender „Blanco“ gerufen, wurde in mir vor allem abseits der touristischen Pfade der rollende, heilsbringende Messias gesehen, während ich mir wie der verhinderte Weihnachtsmann vieler europäischer, vorwiegend Brunnen- und Schulen bauender Hilfsorganisationen vorkam, in dessen Gepäcktaschen ausschließlich Geld, Bonbons und Geschenke vermutet wurden. Die Kinder rannten und stürmten von beiden Seiten kommend oft hoffnungsvoll auf die Straße zu, um ihre Bitte zu verkünden. Selten wollten sie einfach nur gegrüßt und abgeklatscht werden. Erwachsene Männer baten mich gelangweilt vor ihren Hütten sitzend anzuhalten und nicht selten um Wasser, was sich dann meist als Vorwand für oben erwähnte Ersuchen herausstellte. Lange gewillt dem beschriebenen Treiben Aufmerksamkeit zu schenken, freundlich und im Rahmen meiner Möglichkeiten hilfsbereit zu bleiben, machte mich allein schon das ständige Grüßen müde. Häufiger und vorzeitiger als bisweilen von anderen Radreisen gewohnt, musste ich auf Grund von Erschöpfung Ruhetage einlegen. Spätestens nach den ersten Steinen, die in der Casamance im Süden Senegals von 10-12 jährigen Jungs erfolgreich in meine Richtung geworfen und geschleudert ( Steinschleuder ) wurden, wurde es mental für mich zum „Spießruten-fahren“ im Senegal. Vor allem in St. Louis und in den umliegenden Dörfern Richtung Rosso sowie im Nordosten zwischen Touba und Louga begegneten mir Horden von halbwüchsigen, sogenannten „Talibeh“-Jungen mit Blechdosen in der Hand und Kleiderfetzen am verwahrlosten Leib, nahezu in Vollzeitbeschäftigung ausschwärmend, auf der Suche nach Almosen für ihren „Marabout“. In dessen Gewahrsam wurden sie von ihren mittellosen, kinderreichen Eltern entsandt, um versorgt zu werden und den Koran zu erlernen. Entspricht die „Beute“ ( Almosen ) der „Straßenjungen“ ( Empfehlung: Dokumentation „Strassenkinder im Senegal, Charles M. Huber, Afrika-Direkt e.V., www.youtube.com ) nicht den Vorstellungen des Marabouts, droht körperliche Züchtigung. Nicht selten sieht man die „Talibeh“-Jungen genauso wie die Esel und Hunde im Senegal inmitten von Müllhalden oder in den vermüllten Straßenrändern herumstreunen, auf der Suche nach Verwertbarem. Auf meinen letzten Etappen durch den Nordosten des Senegals und im Besonderen zwischen Djourbel, Touba und Louga, also in einer Gegend, in welcher astronomische Summen für den Bau und die Restauration von prunkvollen, mit italienischem Marmor verkleideten Moscheen ausgegeben werden, begegnete mir beklemmende Armut. Wenn ich einen Einkauf in einer der für Westafrika typischen, kioskähnlichen „Boutiquen“ tätigte, umringten mich am Ausgang Kinder, meistens Jungen, in der Erwartung einer Geldgabe. Längst war mir die Lust auf eine Cola, ein Eis oder andere Luxusartikel vergangen, wohlwissend, dass die meisten dieser bettelarmen Kinder selten in ihrem weiteren Leben in den Besitz derartiger Genussmittel kommen werden. Meine Einladungen der Kinder zum Frühstück oder zum gemeinsamen Verzehr einer Melone waren willkommen, änderten aber nichts am Großen Ganzen. Ich sehnte mich zunehmend zurück nach den Orten und Plätzen vergangener Radreisen in Europa, wie z.B. den Haltezonen vor dem Casino in Cannes oder dem Hotel „Vier Jahreszeiten“ in Hamburg, als ich spaßeshalber um Einlass bzw. um ein Quartier bat und in Folge meines einem Reiseradler würdigen Erscheinungsbildes jeweils schnell des „Feldes verwiesen wurde“. Nachdem ich erfolgreich den berühmt, berüchtigten Grenzübergang in Rosso vom Senegal in Richtung Mauretanien ein zweites Mal gegen Bezahlung von 120 € für ein biometrisches Visum passiert hatte, fühlte ich mich ungleich besser. Meine Wahrnehmung von freundlichen Mauren, nicht selten in der Begleitung von Dromedaren, wie ich es bereits bei der Durchquerung im Februar in südlicher Richtung erlebt hatte, sollte sich bestätigen. Erneut wurde ich jeweils vor Einbruch der Dunkelheit von den Soldaten / Polzisten an ihren im Abstand von 40-50 km sich befindenden Straßenkontrollpunkten eingeladen, in ihrer Nähe mein Zelt aufzustellen. Einige Male wurde mir sogar noch vor der Nachtruhe ein Mahl gereicht. Die Warnungen des Auswärtigen Amtes, dass Reisen durch dieses vom Sand verwehte Land mit Gefahren verbunden ist, bestätigte sich nicht.
Resümierend bleiben mir von den im Zeitraum Februar-April bereisten Ländern Mauretanien, Senegal, Gambia und Guinea- Bissau neben den riesigen Baobab-Bäumen, ( Affenbrotbaum ) vor allem die teetrinkenden Männer und seine arbeitssamen Frauen in ihren bunten Kleidern, um ihre Rücken oft ein Neugeborenes gewickelt, häufig schwere Lasten wie Wasser oder Holz auf ihrem Haupte balancierend in bemerkenswerter Erinnerung. Es erschien mir so, als übernehmen die Frauen die Hauptlast der täglichen Aufgaben. Chapeau les femmes de afrique!
Nicht in Vergessenheit geraten wird das emsige Treiben in den Fischerdörfern in der Casamance ( Kafountine ) sowie in Gambia ( Tanji ) mit ihren kunstvoll handgefertigten Fischerbooten am Strand. Ebenso gerne sehe ich die maurischen Männer in ihren in herrlichem Blau leuchtenden Gewändern vor mir. Schnell vergessen möchte ich hingegen den albtraumhaften und schlafraubenden Klang von den Stromaggregaten in den Dörfern in Guinea-Bissau, welche nicht an das Stromnetz angeschlossen waren. Gambia bleibt nicht nur wegen der in meinem Fall erfolgreichen „Bumster“( Nepper / Schlepper / Bauernfänger ) ein rotes Tuch für mich, sondern auch wegen der umständlichen Drogenkontrolle an der Grenze, im Zuge derer ich sämtliche, wenige Stunden zuvor akribisch gepackten Radtaschen wieder entleeren musste und vergeblich nach einem Spürhund forderte, welchen es immerhin am mauretanischen Grenzbereich gab. Abzocke macht in Gambia nicht mal vor der Botschaft Halt. Dort bezahlte ich für ein Visum, welches ich gar nicht benötigt hätte. Die Wiedereinreise nach Marokko, die ich auf dem wüstenhaften Rückweg nicht ausschließlich mit dem Rad, sondern zu meiner Erleichterung von Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens bis nach Agadir überwiegend mit dem Bus zurücklegte, fühlte sich nach über drei Monate Aufenthalt in Westafrika wie die Heimkehr ins himmlische Paradies an.
Zum ersten Mal wurde ich wieder an der Grenze mit „You are welcome“ empfangen und bei der Drogenkontrolle musste ich nur eine Gepäcktasche entleeren.
Je t’aime morocco!